- Literaturnobelpreis 1947: André Gide
- Literaturnobelpreis 1947: André GideDer französische Schriftsteller wurde für seine umfassenden und künstlerisch bedeutenden Werke mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.André Gide, * Paris, 22. 11. 1869, ✝ Paris, 19. 2. 1951; 1896 zwischenzeitlich Bürgermeister von La Roque-Baignard (Normandie), 1909 Mitbegründer und Mitherausgeber der Zeitschrift »Nouvelle Revue Française«. Autor von Erzählungen, Romanen, Reiseliteratur, Dramen, Essays und Gedichten.Würdigung der preisgekrönten LeistungAndré Gide hat in seinem Leben nicht nur Ehrungen erfahren. Der Diplomat und Schriftstellerkollege Paul Claudel vertraute die Erleichterung über den Tod des ehemaligen engen Freundes seinem Tagebuch an: »Tod A[ndré] G[ides]. Die öffentliche Moral gewinnt viel dabei, und die Literatur wird kaum etwas vermissen.« Der militante Katholik und Kritiker des Nobelpreisträgers dürfte sich durch ein Dekret des Heiligen Stuhls bestätigt gefühlt haben, das kurze Zeit nach Gides Tod alle seine Schriften wegen ihrer »Verderbtheit« auf den Index setzte.Ein unabhängiger Kopf mit extremen AnsichtenAuch dem Nobelpreiskomitee machte es Gide mit seiner Neigung zu extremen Ansichten, die nicht alle mit der von Nobel geforderten idealistischen Tendenz zu vereinbaren waren, und seinen unklaren, häufig wechselnden weltanschaulichen Positionen nicht leicht. Die gewundene Würdigung anlässlich der Preisverleihung gibt beredtes Zeugnis von dieser Verlegenheit. Immerhin hatte man einen der anerkannt Großen der Literatur ausgezeichnet, eine maßgebliche Gestalt im literarischen Leben Frankreichs seit über einem halben Jahrhundert, hervorgetreten auch als streitbarer politischer Kopf sowie als Mitbegründer und Mitherausgeber der Zeitschrift »Nouvelle Revue Française«, die als Forum für literarische Debatten und junge Autoren eine treibende Kraft im französischen Literaturbetrieb geworden war.Für Gide bildeten seine private Biografie und seine schriftstellerische Arbeit immer ein Ensemble prinzipiell gleichartiger Tätigkeiten. Seine Reisen, Freundschaften, Kämpfe und Engagements galten ihm ebenso als Erfahrungen und Experimente am Ich wie seine Schriften. Nicht umsonst halten viele sein mit rücksichtsloser Offenheit geführtes Tagebuch für sein bedeutendstes Werk. Das »Journal«, 1939 zuerst veröffentlicht, deckt die Zeit von 1889 bis 1939 ab und wurde bis zu Gides Tod regelmäßig ergänzt. Kennzeichnend für Gides Verbindung von Selbsterforschung und Selbststilisierung ist auch, dass er private Briefe von vornherein im Hinblick auf eine spätere Veröffentlichung konzipierte. So erklärt sich seine tiefe Bestürzung, als er erfuhr, dass seine Frau Madeleine alle seine Brief an sie verbrannt hatte. Grund war das öffentliche Bekenntnis ihres Mannes zur Homosexualität. Weitere autobiografische Werke Gides sind »Stirb und Werde« (1920/21) und die Berichte von seinen Reisen nach Afrika und in die Sowjetunion, »Voyage au Congo« (französisch; Reise in den Kongo; 1927 ), »Le Retour du Tchad« (französisch; Rückkehr aus dem Tschad; 1928), »Zurück aus Russland« (1936). Fast alle seine Erzählungen enthalten größere autobiografische Anteile oder sprechen Bekenntnisse des Autors aus. Gides erstes Buch, »Aufzeichnungen und Gedichte des André Walter« (1891), zunächst anonym veröffentlicht, kleidet seine schwierige Beziehung zu seiner Cousine und späteren Frau Madeleine Rondeaux in das der Literatur des Fin de siècle geläufige Thema des Kampfs zwischen Geist und Körper.Der selbstbewusste junge Autor, der aus reicher Familie stammend nie vom Schreiben leben musste, sah sich selbst mit diesem viel versprechenden Debüt sogleich auf einer Stufe mit den führenden französischen Autoren seiner Zeit. Zwei Reisen nach Italien und Nordafrika in den Jahren 1893-95, bei denen er seine ersten homosexuellen Erfahrungen machte und mit Oscar Wilde bekannt wurde, bestärkten in ihm das Gefühl, einen eigenen Weg im Leben wie in der Literatur einschlagen zu müssen. Seit dieser Erfahrung kultivierte Gide in beiden Bereichen einen unbeirrbaren Eigensinn, der sich keinen moralischen oder ästhetischen Vorgaben verpflichtet fühlte. Das wichtigste literarische Ergebnis dieser Zeit, »Uns nährt die Erde (1897), beeinflusste später eine jüngere Autorengeneration, darunter Albert Camus und Jean-Paul Sartre. Auch die in den folgenden Jahren erschienenen Erzählungen — »Der Immoralist« (1902), »Die enge Pforte« (1909), »Isabelle« (1911) und »Die Pastoral-Symphonie« (1919) — kreisen um die »existenzialistische« Frage, wie der Einzelne zu einem unverwechselbaren Leben findet, das nicht von den moralischen Ansprüchen der gesellschaftlichen und religiösen Institutionen verfremdet wird. Mit diesen Büchern schaffte Gide den Durchbruch zu einer breiteren Leserschaft.Der Erfolg brachte ihm allerdings auch Anfeindungen konservativer Kreise ein. Gide publizierte als Antwort »Corydon« (1924, als Privatdruck bereits 1911 erschienen), eine Verteidigung der Homosexualität in der Form eines platonischen Dialogs. Als Gides bedeutendstes Buch gilt »Die Falschmünzer« (1926), ein psychologischer Entwicklungsroman um junge Männer aus gutem Haus auf der Suche nach dem authentischen Leben, der das falsche Spiel der Pariser Gesellschaft moralisierend aufs Korn nimmt. Komplex aufgebaut, aus wechselnden Perspektiven erzählt und mit Selbstreflexionen zur Poetik des Romans versehen, kreist der Roman um die Frage nach dem Verhältnis von realer und dargestellter Welt, denn »die Art und Weise, wie die Welt der Erscheinungen sich uns einprägt und in der wir versuchen, der Welt unsere je eigenen Interpretationen einzuprägen, macht das Drama unseres Lebens aus.«Umstrittenes politisches EngagementEnde der 1920er-Jahre begann der bislang politisch indifferente Gide sich für politische Fragen zu interessieren. In seinen Reiseberichten aus dem Tschad und dem Kongo sowie einer Reihe von Artikeln klagte er das ausbeuterische Kolonialsystem an. Politisch fühlte er sich zu dieser Zeit dem Kommunismus verbunden, eine Orientierung, die mehr einem antibürgerlichen Reflex zuzuschreiben sein dürfte, als dass sie eine wohl durchdachte politische Entscheidung darstellte. Nachdem Gide als offizieller Gast der sowjetischen Regierung die UdSSR bereist und auf dem Roten Platz die Totenrede auf Maxim Gorki gehalten hatte, kehrte er gründlich desillusioniert zurück. Nach der Veröffentlichung seines Reiseberichts galt er auch in linken Kreisen fortan als Renegat. Erneut konnte er sich in der Rolle des nur der Wahrheit verpflichteten Überzeugungstäters einrichten. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg zog sich Gide zunächst nach Südfrankreich und dann nach Nordafrika zurück.Zu seinen Lebzeiten war Gide ein international einflussreicher und viel gelesener Autor und als führende literarische Autorität anerkannt. Allerdings verblasste sein Ruhm rasch nach seinem Tod, das Altväterliche hinter der Fassade seines blendenden Stils wurde nun bemerkt, und die Debatten, die er geführt hatte — gegen die kirchlichen Moralprediger, den heuchlerischen Konformismus der bürgerlichen Gesellschaft, die sexuellen Tabus, den Kolonialismus oder den Totalitarismus von links und rechts —, waren zwar noch nicht erledigt, fanden aber inzwischen auf einer ganz anderen Ebene statt. Heute wird Gide als Klassiker der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts mehr geachtet als gelesen.J. Zwick
Universal-Lexikon. 2012.